#110/2019 Recht versus rechts
Die Entwicklung der Rechte marginalisierter Gruppen in Österreich geht in großem Ausmaß auf Höchstgerichtsurteile zurück. Allein die Geschichte der LGBTIQ-Bewegung in den vergangenen 20 Jahren könnte anhand der Urteile des Verfassungsgerichtshofs rekonstruiert werden.
Bei gesellschaftlich unbeliebten Themen warten Regierungen so lange mit Reformen, bis Einzelpersonen bei Höchstgerichten Beschwerde einlegen. Die richtungsweisenden Urteile der obersten Gerichte, welche die nicht verfassungs- bzw. menschenrechtskonformen Regelungen aufheben, setzen der Politik oft ihre Grenzen.
Ob wir uns auch weiterhin auf den Rechtsstaat verlassen können, ist angesichts der politischen Entwicklungen rund um Österreich nicht mehr selbstverständlich. Trend: Infragestellung der gerichtlichen Kontrolle staatlichen Handelns unter Berufung auf die erzielte Mehrheit bei den Wahlen.
Schon im Jahr 2002 kündigte Jörg Haider, damals Kärntner Landeshauptmann, im Zusammenhang mit dem VfGH-Entscheid zu Ortstafeln an, er wolle den Verfassungsgerichtshof „zurechtstutzen“. Siebzehn Jahre später findet der aktuelle Innenminister Herbert Kickl, dass das Recht der Politik zu folgen habe und nicht umgekehrt. Anlass: Straffällig gewordenen Asylberechtigten und Asylwerber_innen soll der Schutzstatus aberkannt werden.
Für die erste Stimme-Ausgabe 2019 haben wir unsere Autor_innen gefragt, was es für die Demokratie bedeutet, wenn Selbstverständlichkeiten vom Gesetzgeber nicht eigenständig geregelt werden und Rechtsunterworfene gezwungen sind, sich um die Rechtshygiene zu kümmern. Entstanden ist eine kurze Geschichte der Entwicklung österreichischer Minderheitenrechte anhand von Fallbeispielen, bei denen die Höchstgerichte eine prominente Rolle spielen.
Für den Generalsekretär des Klagsverbands Volker Frey ist die höchstgerichtliche Überprüfung der Menschenrechtskompatibilität von gesetzlich geregelten Geboten wie Verboten ein wichtiges Korrektiv gegen politische Diskriminierung. Der Jurist legt Fälle dar, die von Ungleichbehandlung wegen der Staatsbürgerschaft gekennzeichnet waren und schlussendlich von den Höchstgerichten geregelt wurden.
Der Stimme-Redakteur Gerd Valchars sprach mit der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner über das Pingpong zwischen Gesetzgebung und Höchstgerichten, die Signalpolitik sowie die vielen Wege zur Erkämpfung von Rechten.
Der Jurist Matthias Kettemann vergleicht das Ortstafelerkenntnis des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2001 mit der Entscheidung des US Supreme Court 1954 in Brown v. Board of Education, mit der die „Rassentrennung“ in öffentlichen Schulen beendet wurde – beiden Urteilen folgte ein schwieriger Umsetzungsprozess, aber beide haben sozialen Wandel bewirkt.
Der Kampf der österreichischen Trans- und Inter*Bewegung galt über einen langen Zeitraum den Voraussetzungen für die Änderung des Geschlechtseintrags sowie einer dritten Eintragsmöglichkeit. Erkenntnisse des Verwaltungs- bzw. Verfassungsgerichtshofs 2010 und 2018 machten beide Forderungen möglich – trotz massiver Gegensteuerung des Gesetzgebers. Der Wissenschafter Persson Perry Baumgartinger (Trans Studies und Queer Linguistics), befasst sich anhand von Verwaltungsschriften und Gerichtserkenntnissen mit der staatlichen Regulierung von Geschlecht.
Im Dezember 2018 wurde eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im Zusammenhang mit dem türkischen Wählerverzeichnis aus dem Jahr 2017 publik. Anhand dieser Liste wurden (und sollten weiterhin) fast hunderttausend Österreicher_innen auf Doppelstaatsbürgerschaft überprüft werden. Der Entscheid hielt fest, dass die Namensliste kein taugliches Beweismittel für die Wiedererlangung der türkischen Staatsbürgerschaft sei. Die Juristin und ehemalige Nationalratsabgeordnete der Grünen Berivan Aslan über die Hintergründe und Profiteur_innen der Doppelpass-Causa.
Vor vierzig Jahren fand im Iran die islamische Revolution statt, mit der die Mullahs an die Macht kamen. Ein Jahr später, 1980 kam Minoo Rahimi zum Studium nach Wien – und blieb. Duygu Özkan stellt in „Kennengelernt“ die Allgemeinärztin vor.
Die Musikethnologin Ursula Hemetek wurde 2018 mit dem Wittgenstein-Preis ausgezeichnet. Ein Porträt in der Radio-Stimme-Nachlese von Melanie Konrad.
Neue Kraft für neue Herausforderungen und anregende Lektüre wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin
Stimmlage – von Hakan Gürses
Groll – von Erwin Riess
Lektüre – mit Buchbesprechungen von Rumeysa Tankir, Petra M. Springer und Andreas Holzer