#98/2016 Social Media in Krisenzeiten
Wael Ghonim wurde 2011 vom Time Magazine zum einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Als damals 30-jähriger Google-Mitarbeiter organisierte er in Ägypten über Facebook Demonstrationen gegen das Mubarak-Regime und wurde das Gesicht des arabischen Frühlings, der sogenannten Social Media Revolution. Das Web 2.0 ermöglichte, dass Ghonim von Millionen Menschen gehört wurde. Ein gutes Beispiel für das emanzipatorische Potenzial der und die Ermächtigung durch die sozialen Medien.
Schlussendlich sind aber auch die sozialen Medien nicht mehr als ein Werkzeug, und wie bei jedem Werkzeug kommt es darauf an, wer es für welchen Zweck verwendet. Immer häufiger werden im Internet gute Inhalte von lauten, polarisierenden und manipulierenden Inhalten verdrängt. Und auch der sogenannte Islamische Staat bedient sich bei der Kommunikation und der Rekrutierung von Anhänger_innen der sozialen Medien.
Menschenrechte sind immer noch das Lebensthema von Wael Ghonim. Mittlerweile in die USA emigriert, gründete er das Start-up Parlio, eine Plattform für politische Debatten, auf dem kein Platz für Hass und Hetze sein soll. Auf Parlio kommen Intellektuelle mit der Öffentlichkeit ins Gespräch. Jede_r kann sich anmelden und Fragen stellen, schreiben können nur Eingeladene, darunter auch der Linguist Noam Chomsky. Für die Frühjahrsausgabe der Stimme haben wir unsere Autor_innen eingeladen, das Potenzial und die Schwächen des Social Web in der Erkämpfung der Menschen- und Bürger_innenrechte unter die Lupe zu nehmen.
Peter Judmaier, Dozent für Medientechnik und Christine Pichlhöfer, Psychotherapeutin diskutieren die Möglichkeiten der digitalen Medien als Stimme der Marginalisierten.
Ein außergewöhnliches Dokument verdanken wir dem Soziologen Hans Christian Voigt und fünf „Newcomern“. In mehreren gemeinsamen und Einzelsitzungen und im Austausch über Facebook erstellten sie ein Dokument, das in der Art seiner Entstehung und vor allem in seinem Informationsgehalt einzigartig ist. Es erzählt von Flucht, vom Ankommen in Österreich und von der Rolle der sozialen Medien dabei.
Der Suchdienst des Roten Kreuzes besteht seit seiner Gründung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Wege und Methoden, die bei der Suche nach vermissten Personen zum Einsatz kommen, haben sich mit dem Aufkommen der sozialen Medien vervielfältigt. Claire Schocher-Döring, Leiterin Suchdienst und der Familienzusammenführung des Österreichischen Roten Kreuzes, berichtet über das Projekt „Trace the Face“, das Flüchtlinge bei der Suche nach vermissten Familienangehörigen unterstützt.
Corina Drucker koordiniert die kommunikativen Aktivitäten der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe Wilfersdorf und betreibt die gleichnamige Facebook-Gruppe. Sie schildert anhand des eigenen Facebook-Auftritts und des Auftritts der Freiwilligeninitiative „Train of Hope“ die Vorteile dieser Art der Kommunikation und stellt Empfehlungen zur Verfügung.
Der freiberufliche Fotograf Max Brucker nutzte im Spätsommer und Herbst 2015 die Online-Fotoplattform Instagram für die Dokumentation der Flüchtlingsbewegung nach Österreich. Andre Marston Alvarez schreibt über die Bilder und die Motive des Fotografen.
Die Schattenseite der sozialen Medien als Plattform für erfundene Horrorstorys, Falschmeldungen und Manipulation der Öffentlichkeit darf nicht unerwähnt bleiben. Christoph Brenner dieser Schattenseite im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskrise nach und stellt Überlegungen darüber an, wie die sozialen Medien zum Träger für mehr Menschlichkeit, Verständnis und Empathie in der Gesellschaft werden können.
Nicht immer vorstellbar sind die Zeiten vor Smartphone, E-Mail, Facebook & Co. Eine Aufgabe für die Spurensicherung. Vida Bakondy über die Kommunikation der „Gastarbeiter_innen“ mit ihren Familien im Herkunftsland durch das Hin- und Herschicken von Audiokassetten.
Radio Stimme startete das neue Jahr mit einem Schwerpunkt zu Spielen. Die Nachlese zu den ersten zwei Sendungen über die Gamifizierung, die erschreckend negative Darstellung von Frauen und die sogenannten Serious Games verfasste Ida Divinzenz.
Die Silvesterereignisse von Köln und vor allem deren medialer und diskursiver Nachhall können nicht oft genug kritisch hinterfragt werden, prägten sie doch entscheidend die europäische Flüchtlingspolitik mit, die bis zur Schließung der Grenzen geführt hat. Die Kultur- und Sozialanthropologin Heidi Pichler stellt sich in ihrem Kommentar gegen einen Rassismus im Namen des Feminismus.
Bei der Registrierung als Leserin von Parlio musste ich versprechen, mir die Zeit zu nehmen, die richtigen Worte zu finden, mehr zuzuhören als in die Tasten hauen und über Argumente und nicht über die Menschen zu diskutieren. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen Frühling mit vielen anregenden Gesprächen!
Gamze Ongan, Chefredakteurin
Stimmlage: Atomphysik in Zeiten der Flucht von Hakan Gürses
Groll: Das Zeitalter der Zäune von Erwin Riess