#135/2025 – 70 Jahre Staatsvertrag
Nicht genutztes Potenzial für Minderheiten- und Menschenrechte

Der „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“, abgeschlossen am 15. Mai 1955 zwischen Österreich und den alliierten Mächten, birgt minderheiten- und menschenrechtlich beachtlicheBestimmungen.
So lautet der erste Absatz des Artikels 6 „Menschenrechte“: „Österreich wird alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um allen unter österreichischer Staatshoheit lebenden Personen ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Sprache oder Religion den Genuß der Menschenrechte und der Grundfreiheiten einschließlich der Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse und Veröffentlichung, der Religionsausübung, der politischen Meinung und der öffentlichen Versammlung zu sichern.“
Der Artikel 7 „Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten“, erster Absatz, besagt: „Österreichische Staatsangehörige der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, Burgenland und Steiermark genießen dieselben Rechte (…) wie alle anderen österreichischen Staatsangehörigen einschließlich des Rechtes auf ihre eigenen Organisationen, Versammlungen und Presse in ihrer eigenen Sprache.“
Und im Artikel 9 „Auflösung nazistischer Organisationen“, Absatz 2, heißt es: „Österreich verpflichtet sich, alle Organisationen faschistischen Charakters aufzulösen, die auf seinem Gebiete bestehen, und zwar sowohl politische, militärische und paramilitärische, als auch alle anderen Organisationen, welche eine irgendeiner der Vereinten Nationen feindliche Tätigkeit entfalten oder welche die Bevölkerung ihrer demokratischen Rechte zu berauben bestrebt sind.“
Die Initiative Minderheiten und das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) luden Ende April anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Staatsvertrages zu einer Veranstaltung. Im vorliegenden Heft finden Sie eine Dokumentation der Diskussion mit hochkarätigen Expert:innen über die Bedeutung des Grundgerüsts der Zweiten Republik für aktuelle minderheiten- und menschenrechtliche Fragen.
Der Rechtsanwalt und ehemaliger Nationalratsabgeordnete Alfred Noll weist in seinem Beitrag auf den Zusammenhang vertraglich eingegangener Verpflichtungen bezüglich Menschenrechte, Minderheiten- und Demokratieschutz hin und unterstreicht die bisher versäumte Aufgabe, diese gemeinsam zu denken und zu realisieren.
Die Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin Elena Messner stellt in einem sehr persönlichen Beitrag dar, welche Bedeutung die im Staatsvertrag festgehaltenen Bestimmungen für Menschen haben, zu deren Schutz und Rechten sie gedacht waren.
Für Marianne Schulze, Juristin und Menschenrechtskonsulentin, ist in der Menschenrechtsklausel des Staatsvertrages ein immenses Potenzial enthalten, hätte sich der österreichische Staat nicht für einen menschenrechtlichen Minimalismus entschieden.
Liest man den Artikel 9, wundert man sich über die Ergebnisse des Berichts „Rechtsextremismus in Österreich 2023“, erstellt vom Dokumentationszentrums des österreichischen Widerstands. Der Rechtsextremismusforscher und Hauptautor des Berichts Bernhard Weidinger kennt die Kluft zwischen den Zielsetzungen des Vertrags und den politischen Realitäten der Zweiten Republik nur zu gut.
Nicht zuletzt haben wir den Historiker Gerhard Baumgartner gebeten,die Entwicklungen in der Sprachen- und Minderheitenpolitik im demokratischen System Österreichs nachzuzeichnen.
Von ungeahnten Möglichkeiten des Staatsvertrages sprach schon 2005 Franjo Schruiff in einer STIMME-Ausgabe zum 50. Jahr der Unterzeichnung. Vorausgesetzt, der Wille sei vorhanden. Ähnlich liest sich die Conclusio der Podiumsdiskussion mit Terezija Stoisits, Marianne Schulze, Bernhard Weidinger und Andreas Brunner nun 20 Jahre später.
Einen schönen Sommer wünscht,
Chefredakteurin Gamze Ongan
Erratum: Wir bedauern, in der Stimme-Ausgabe 134 /2025 „GEDENKEN FEIERN WÜRDIGEN – Zeit für neue Denkmäler“ den Zukunftsfonds der Republik Österreich als Fördergeber nicht genannt zu haben und bedanken uns nachträglich für die Unterstützung.
Gestaltung: Fatih Aydoğdu
Lektorat: Daniel Müller
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