#61/2006 Welcher Balkan?
Der Balkan dient dem Rest Europas seit jeher als Projektionsfläche – aber das gilt nicht nur für die medial aufgearbeitete öffentliche Wahrnehmung. Sogar die kritische Rede über die „Balkanophobie“ weist bisweilen Züge auf, die nicht zuletzt durch ihre Balkan-Begeisterung und -Romantik zu dieser Projektion beitragen.
Im vorliegenden STIMME-Heft mit dem Balkan-Schwerpunkt versuchen wir, einerseits das europäische Balkan-Bild kritisch unter die Lupe zu nehmen, andererseits die vielfachen Projektionen zu verstehen – um zu der Frage vorzudringen, welchen Balkan wir jeweils meinen, wenn wir von dieser Halbinsel sprechen.
Die AutorInnen der Thema-Beiträge haben dementsprechend unterschiedliche Zugänge. Ljubomir Bratic beschreibt einen „ganz privaten“ Balkan – verstanden weniger als geografische Region als vielmehr die eigene (und die vieler anderer MigrantInnen) Vergangenheit zwischen dem Warten auf den eingewanderten Vater und der eigenen Migration.
Auch Djurdja Knezevic befasst sich kritisch mit der Vergangenheit, allerdings im politischen Kontext des Feminismus im ehemaligen Jugoslawien und den heutigen Nachfolgestaaten – am Beispiel Kroatiens.
Anhand der scharfen Wurstware, Bosna genannt, rechnet Erwin Riess‘ Groll ebenfalls mit der Vergangenheit ab. Die liebevolle Erinnerung an die in der Frühjugend gern konsumierte Speise enthält aber auch politisch Brisantes.
Richard Schuberth, studierter Ethnologe, bekannter Musikjournalist, Autor und künstlerischer Leiter des Festivals „Balkan Fever“ hat vieles zum Thema zu sagen. Daher haben wir gleich zwei Beiträge von ihm veröffentlicht. Während sein erster Text eine sarkastische und sprachgewaltige Auseinandersetzung mit den Kontrahenten am Balkan darstellt, wird sein zweiter Beitrag vergleichsweise von einer „Güte“ getragen, die uns „historische Geschenke“ in Form von Fakten beschert.
Zwei wissenschaftliche Beiträge präsentieren den Balkan als schier unerschöpfliche Quelle für Linguistik und Musikforschung. Alenka Barber-Kersovan widmet ihren Beitrag der europäischen Rezeption der „Balkan-Musik“, insbesondere anhand der unterschiedlichen Aufnahme von „Yugo-Rock“ im ehemaligen Jugoslawien und im „Westen“. Im Zentrum von Victor A. Friedmans Text steht der Begriff „Codeswitching“. Der Autor untersucht durch zahlreiche Liedtext-Beispiele die unterschiedlichen kulturellen wie soziopolitischen Implikationen des Wechsels von sprachlichen Codes in Liedern.
Der Brief aus Istanbul, in dem Gerald Kurdoglu Nitsche diesmal von der Entstehung der Anthologie Südostwind erzählt, rundet den Themenschwerpunkt ab.
Die STIMME-Redaktion möchte sich bei zwei Personen, die einen konzeptionellen und redaktionellen Beitrag zum Zustandekommen dieser Ausgabe geleistet haben, herzlich bedanken: Ursula Hemetek, bekannte ethnomusikologische Forscherin und Ideengeberin zu diesem Schwerpunkt, ermöglichte, wie Ljubomir Bratic auch, das Einladen von profunden ExpertInnen als AutorInnen für die vorliegende Ausgabe.
Hakan Gürses, Chefredakteur