#87/2013 Mode
Was kann ein Kleid, was können Textilien, Schnitte, Farben und Muster aussagen? Was ist Mode außer Konsumgut und Wirtschaftsfaktor noch? Die Geschichte der Mode ist eng mit gesellschaftlichen Klassen, Geschlechtern und ethnischen Zugehörigkeiten ihrer TrägerInnen verbunden, aber auch mit Protest und Ausdruck der (politischen) Zugehörigkeit. Die rote Jakobinermütze der ersten französischen Revolution, T-Shirt mit Che Guevera oder der von Mary Quant entworfene Minirock sind nur wenige Beispiele. Erbitterte Kämpfe um textile Rohstoffe haben ebenso mit Mode zu tun wie Ausbeutung und Gewalt zur Niederschlagung von Streiks in der Textilindustrie. Die weltweit vorherrschenden Modetrends sind Zeichen politischer Machtverhältnisse. Wer politisch und wirtschaftlich das Sagen hat gibt auch den modischen Ton an.
Lederhose und Dirndl waren im Nationalsozialismus zum „urdeutschen“ Kleidungsstück auserkoren, auch heute wird die Tracht teilweise im Sinne der „Heimat“ ideologisch genutzt. Gerade deswegen gilt es als Provokation, wenn Migrantinnen und Migranten in sie schlüpfen. Als Nationalratsabgeordnete Alev Korun 2009 im Parlament im Dirndl auftrat, erntete sie heftige Kritik sowohl vor Ort von einzelnen ParlamentarierInnen, als auch medial.
Die in Kamerun aufgewachsenen Schwestern Marie Darouiche und Rahmée Wetterich produzieren in München unter dem Label Noh Nee Dirndl aus afrikanischen Stoffen. Ihr Ziel: Menschen sollen ihre Traditionen im neuen Licht sehen. Die bosnisch-österreichische Künstlerin und Architektur-Historikerin Azra Aksamija nähte eine sogenannte Dirndlmoschee: ein Dirndlkleid, dessen Kittel sich in einen islamischen Gebetsteppich für drei Personen verwandeln lässt. Unter anderem um zu zeigen, dass Muslimin und Österreicherin zu sein keinen Widerspruch darstellen muss.
Über Kleidung werden Identitäten konstruiert und Grenzen gezogen. Kopftuch als religiöses Kleidungsstück steht etwa nach wie vor an erster Reihe, wenn es um Beweisführung für die Unmöglichkeit der gemeinsamen Existenz unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gruppen geht.
Mode ist minimalistisch und prunkvoll, brav und provokant, klassisch und dekonstruktiv, ethnisch und uniform. Und alles andere als leichte Popkultur.
Die Beiträge in unserem Mode-Schwerpunkt konzentrieren sich stark auf deren global-politische Dimension. Eurozentrismus, Kolonialismus, Exotismus sowie faire Produktionsbedingungen und Nachhaltigkeit in der Modeindustrie sind die übergreifenden Themen.
„Indien kommt nie aus der Mode!“ Ruby Sircar zitiert die letzte Königin Indiens, um in ihrem Beitrag den kolonialen Stil- und Formenaustausch zwischen Indien und Europa anhand einer historischen Strecke beginnend vom 19. Jahrhundert bis heute zu untersuchen. Westliche Modemagazine arbeiten nicht nur mit eurozentristischen und heteronormativen Körperbildern, sondern grenzen auch die Kategorien class, race, gender und Alter kategorisch aus. Barbara Schmelzer Ziringer analysiert die Cover-Motive der Zeitschriften Vogue und Elle und plädiert für eine Entgeschlechtlichung und Dezentrierung europäischer Körperbilder. Die Designerin Cloed Baumgartner entwirft Mode aus alten Herrenanzügen. Cornelia Kogoj sprach mit der Gründerin des österreichischen Design-Labels MILCH über soziale und nachhaltige Mode sowie über die politische Macht von Shopping. Das neue Selbstbewusstsein der afrikanischen Mode zeigt sich nicht nur an den weltweit stattfindenden African Fashion Weeks. simon INOU berichtet von der Vernichtung der afrikanischen Textilindustrie in den 1990er Jahren und von der Renaissance der afrikanischen Mode. Dutch Wax ist ein afrikanisch kodierter Stoff, der seit 1846 in den Niederlanden hergestellt und hauptsächlich in Afrika abgesetzt wird. Belinda Kazeem zeigt in ihrem Beitrag die Verwobenheit verschiedener Weltregionen bezüglich Herstellungsart, Ästhetik und Produktion anhand des Werks des Künstlers Yinka Shonibare.
Die Stimme-Serie über Ungarn führen wir mit zwei Interviews fort. Tamás Müller sprach mit der Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky, der Mitautorin des Buches „Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn“ sowie mit der Übersetzerin, Elternaktivistin und Musikerin Lídia Nadori.
Birgit Menne, Künstlerin, Soziologin und Autorin, gab im März 2013 die ihr 2008 verliehene Humanitätsmedaille des Landes Oberösterreich zurück. Wir haben sie gebeten, ihre Beweggründe für die Stimme darzustellen.
Im August erscheint die vollständig überarbeitete Neuauflage des ersten Groll-Romans von Erwin Riess aus dem Jahr 1999. Lesen Sie einen Vorabdruck aus „Herr Groll und die ungarische Tragödie“.
Nicht zuletzt erwarten Sie die Radio-Stimme-Nachlese von Sonja Hofmair über die scheinbare Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen durch den Staat anhand des Sammelbandes „Que[e]r zum Staat“.
Interessante Lektüre und schönen Sommer wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin