#106/2018 Gedenken
Im Achter-Jahr 2018 erinnern wir uns an die Ausrufung der Republik Österreich und an die Einführung des Wahlrechts für Frauen (1918), an die Student_innenbewegung (1968) und an die Verhinderung der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf (1978). Und vor allem erinnern wir uns an den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland sowie die März- und Novemberpogrome. Wir erinnern, trauern, feiern, forschen, stellen die historischen Ereignisse neu dar oder stellen sie aus.
Das erste Stimme-Heft dieses bedeutungsvollen Jahres widmen wir dem Gedenken an die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs. Das achtzigste Jahr des kollektiven Jubels um Adolf Hitler am Wiener Heldenplatz ist von antisemitischen „Einzelfällen“ überschattet, in die Politiker_innen und Funktionär_innen der kleineren Regierungspartei verstrickt sind.
Unweigerlich erinnern wir uns an ein anderes Gedenkjahr: 1988 war Kurt Waldheim seit zwei Jahren Bundespräsident der Republik Österreich. Der vorangegangene Wahlkampf war von heftigen Debatten um seine nationalsozialistische Kriegsvergangenheit und seinem Schweigen darüber geprägt. Die Wahl hatte er trotzdem für sich entschieden – nicht zuletzt dank den gezielt geschürten antisemitischen Ressentiments, etwa den Kampagnen-Slogans: „Jetzt erst recht“ und „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen!“, jeweils plakatiert auf grellgelbem Hintergrund – ein antisemitisches Motiv
Die Affäre Waldheim führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung des offiziellen Österreichs mit der NS-Zeit. Zum ersten Mal wurde in der Öffentlichkeit über diese – noch sehr nahe – Vergangenheit diskutiert. Die Opferthese brach als Geschichtslüge in sich zusammen. 1993 bat Bundeskanzler Franz Vranitzky in seiner Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem die Opfer der österreichischen Täter im Namen der Republik um Verzeihung. In den folgenden Jahren wurden Entschädigungsansprüche von NS-Opfern anerkannt.
Ein böser Zufall, dass die höheren Ämter der Republik ausgerechnet in Gedenkjahren mit politisch äußerst bedenklichen Personen besetzt sind? Und warum findet 2018 die größere Regierungspartei keine klaren Worte über rassistische und antisemitische Verstrickungen mehrerer Mitglieder ihrer Koalitionspartei?
Unsere Autor_innen gehen unter anderem der Frage nach, wer warum wessen gedenkt, und stellen verschiedene Gedenkformen dar. So viel sei vorweggenommen: Ein gemeinsames Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus scheint noch nicht möglich zu sein.
Der Historiker Peter Pirker analysierte im Rahmen eines Forschungsprojektes die Erinnerungszeichen zum Thema Nationalsozialismus in Wien. Das Gedenken galt lange Zeit fast ausschließlich Wehrmachtssoldaten oder Widerstandskämpfer_innen – nicht den verfolgten Opfern des Nationalsozialismus.
Angelika Hirsch aus dem Psychosozialen Zentrum ESRA befasst sich mit der Geschichte des im November 1938 zerstörten „Großen Leopoldstädter Tempels“, an dessen Stelle im November 2018 eine große Gedenkveranstaltung stattfinden wird.
Wie gedenken, wenn kein Grabstein an die ermordeten Liebsten erinnert? Seit 2005 ermöglicht der Verein „Steine der Erinnerung“, dem Gedenken einen realen Ort zu geben. Daliah Hindler, Generalsekretärin und Matthias Beierl, technischer Koordinator des Vereins, zeichnen den Prozess der Steinsetzung nach.
Gerd Valchars sprach mit Claudia Prutscher, Vizepräsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, über ihre Erwartungen an ein offizielles Gedenken und über die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Gedenkens mit der ÖVP/FPÖ-Regierung.
Der Beitrag der Historikerin Elisa Heinrich bietet einen Überblick über die (erinnerungs-) politischen Auseinandersetzungen um die Opfergruppe der in der NS-Zeit als homosexuell verfolgten Personen.
Die Kurator_innen der Ausstellung „Die Stadt ohne“ haben einen umstrittenen Vergleich gewagt, indem sie das Wort „Juden“ im Titel der filmischen Vorlage mit „Muslime Flüchtlinge Ausländer“ ergänzt haben. Petra M. Springer hat mit der Historikerin und Co-Kuratorin Barbara Staudinger gesprochen.
Ein frühes Gedenken: Schon 1946 fand in Klagenfurt/Celovec ein Gedenkmarsch statt. Vida Bakondy hat für die Spurensicherung die Hintergründe und Folgen recherchiert.
Volker Schönwiese, Mitbegründer der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Österreich, spannt einen Bogen vom Beginn der Behindertenbewegung in der Zwischenkriegszeit über die Zeit des Nationalsozialismus bis heute. Von Ergebnissen einer Medienanalyse zur Berichterstattung über Menschen mit Behinderung berichtet schließlich die Sozialwissenschaftlerin Petra Flieger.
In einer eigenen Fotostrecke zeigen wir Fotografien leerer jüdischer Wohnungen von Robert Haas, aufgenommen zwischen 1937 und 1939 (© Wien Museum, Nachlass Haas).
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Gamze Ongan, Chefredakteurin
Kommentar: Antisemitismus im Lichte der aktuellen politischen Situation – von Peter Schwarz
Stimmlage: Von Göttern und der „Endstation Demokratie“ – von Hakan Gürses
Zweierlei Opfer – von Peter Pirker
80Jahre Gedenken am Ort des einstigen Leopoldstädter Tempels,1858–1938 Novemberpogrom – von Angelika Hirsch
Steine, die bewegen – von Matthias Beier und Daliah Hindler
„Wir gedenken ununterbrochen“ – von Gerd Valchars
Homosexuelle NS-Opfer anerkennen – von Elisa Heinrich
„Wir setzen nicht gleich, wir vergleichen“ – von Petra M. Springer
Der Kampf um die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen hat Geschichte – von Volker Schönwiese
Randfiguren – von Petra Flieger
Herr Groll in Hainburg an der Donau – von Erwin Riess
„Mir lebn ejbig“ – Melanie Konrad und Julia Hofbauer
Spurensicherung: Der Kampf um Erinnerung – von Vida Bakondy
Lektüre: Rezensionen – von Petra M. Springer, Vera Ratheiser, Daniel Haueis und Hakan Gürses