#105/2017 25 Jahre Bosnienkrieg
Der Zerfall Jugoslawiens hat in den 1990er Jahren Hunderttausende Menschen zur Flucht gezwungen. Mit rund 115.000 Geflüchteten aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo war das Nachbarland Österreich – und hier insbesondere Wien – ein sehr wichtiger Fluchtpunkt, auch weil viele Flüchtende hier Angehörige hatten.
Mit dem Beginn des serbisch-kroatischen Kriegs im Jahr 1991 kamen nach Angaben des UNHCR etwa 13.000 Personen aus Kroatien nach Österreich. Im April 1992 entflammte der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina. Zwischen 1992 und 1995 wurden 90.000 Flüchtlinge aus Bosnien aufgenommen, alleine 80.000 davon schon bis Frühherbst 1992. Sie erhielten im Rahmen der so genannten De-Facto-Aktion vorübergehenden Schutz. Die letzte Flüchtlingswelle aus dem Raum Ex-Jugoslawiens fiel in die Zeit des Kosovo-Konfliktes 1998/99. Etwa 12.000 Kosovo-Albaner_innen flohen nach Österreich.
Die Mehrheit der Flüchtlinge aus Kroatien und dem Kosovo kehrte zurück oder zog in andere Länder weiter. Zwei Drittel der Bosnienflüchtlinge (ca. 60.000) blieben dauerhaft in Österreich. Durch die schrittweise Integration in den Arbeitsmarkt konnten zahlreiche von ihnen den befristeten Aufenthaltsstatus in einen dauerhaften umwandeln. Viele wurden österreichische Staatsbürger_innen.
25 Jahre nach Kriegsbeginn in Bosnien widmen wir die STIMME den Erinnerungen und Erfahrungen jener Menschen, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre als Kinder oder Jugendliche in Österreich Zuflucht suchten. Für sie wurde dieses Land zu einem neuen Zuhause. Ihre weitere Geschichte wurde bis dato kaum erzählt.
Adisa Beganović war neun Jahre alt, als sie 1995 mit Mutter und Schwester aus dem Nordwesten Bosniens nach Wien flüchten musste. Die junge Journalistin porträtierte Jahre später Vertriebene aus Bosnien-Herzegowina für ihr Buch Über/Leben im Krieg und begann sich gleichzeitig mit der eigenen Fluchtgeschichte auseinanderzusetzen.
Selma Mujić’s Urgroßvater besuchte in Wien die HAK und kämpfte in der k. u. k. Armee. Ihr eigener Weg von Sarajevo nach Wien führte sie 1993 als Achtjährige über Zagreb und Istanbul. Die Sozialanthropologin und Sprachtrainerin verfasste für die Stimme gemeinsam mit jungen Geflüchteten aus Syrien Geschichten über Flucht und Ankommen.
Mislav Plavsa, geboren 1985 in Zagreb, ist seit seinem sechsten Lebensjahr Wiener. Der Historiker und Ethnologe argumentiert am Beispiel der österreichischen Fußballhelden Marco Arnautović
und Ivica Vastić gegen starre nationale Identitätsmuster und für die Anerkennung multipler Identitäten – nicht nur im Fußball.
Eine blaue Schuhschachtel begleitet die Architektin Amila Širbegović seit einem Vierteljahrhundert bei jedem Umzug. Sie kam 1992 mit 14 Jahren aus Brčko im Norden Bosnien-Herzegowinas – vermeintlich vorübergehend – zu ihrem Vater nach Wien. Sie bewahrt in der Schachtel Briefe von Freund_innen aus ihrer einstigen Heimatstadt auf, die in die ganze Welt verstreut sind. Eine Fortsetzung ihrer Geschichte in der Kolumne Spurensicherung aus Stimme 104.
Auch der Journalist und Videograph Siniša Puktalović aus Osijek in Kroatien floh im Zuge des Krieges nach Wien. Das war 1991, er war neun Jahre alt. Er erzählt von einer Begegnung mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie an der serbisch-ungarischen Grenze im Jahr 2015, die Erinnerungen an seine eigene Flucht hochkommen ließ.
Im Mittelpunkt der dritten und letzten Folge der Spurensicherung zur „Jugoslawischen Diaspora im Wien der 1990er Jahre“ von Vida Bakondy steht ein Brief von Spomenka an Azra. Zwei Bosnierinnen – aufgrund ihrer Herkunft verschiedenen Kriegsfronten zugeteilt und gewaltsam vertrieben.
Im Jahr 2015 erreichte die nächste große Fluchtbewegung – diesmal vordergründig aus dem Kriegsgebiet Syrien – Österreich. Viele fragten sich, wie das Land in den 1990er Jahren um die 115.000 Menschen aus den jugoslawischen Kriegsgebieten aufnehmen konnte. Vida Bakondy fragte Heide-Marie Fenzl, Leiterin und Koordinatorin der „Bosnier-Aktion“ im Innenministerium zwischen 1992 und 1998, wie das möglich war. Die Ministerialrätin a. D. ist überzeugt: Es war der politische Wille. Fenzl sollte auch unter ÖVP-Innenminister Strasser rasch pensioniert werden.
Wir haben die Autor_innen der Themenstrecke gebeten, uns jeweils ein Bild zur Verfügung zu stellen, das sie mit der eigenen Geschichte verbinden. An dieser Stelle einen herzlichen Dank für diese sehr persönlichen Dokumente, die wir auf den folgenden Seiten abbilden dürfen.
Und nicht zuletzt einen großen Dank an Vida Bakondy für ihre konzeptionelle Unterstützung dieser Ausgabe. Ihre Recherchen im Rahmen des Projekts „Fluchtpunkt Wien. Die jugoslawische Diaspora im Wien der 1990er Jahre“ für das Wien Museum bildeten den Ausgangspunkt für den Themenschwerpunkt.
Erholen Sie sich gut, sammeln Sie viel Kraft – für das Tun für bessere Zeiten.
Ein gutes neues Jahr wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin
Stimmlage – von Hakan Gürses
Groll – von Erwin Riess
Nachlese – von Claudia Schweiger
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