#80/2011 Selbstbestimmt Leben mit Behinderung
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Behinderung ist kein individuelles „Problem“, sondern das Produkt gesellschaftlicher Bedingungen und Verhältnisse, die Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen bei der Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen behindern. Konnte sich Österreich bis zum Jahr 2010 mit einer im internationalen Vergleich fortschrittlichen Gesetzgebung bei der schulischen Integration und Pflegesicherung rühmen, werden seither die Errungenschaften der autonomen Behindertenbewegung sukzessive rückgängig gemacht. Die zahlreichen Reaktionen darauf sowie das Motto der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung „Nichts über uns – ohne uns!“ ziehen durch die Themenbeiträge der STIMME hindurch.
Einleitend stellt Erwin Riess das im August 2011 als Reaktion gegen die Einsparungen im Behindertenbereich entstandene „Wiener Manifest“ der österreichweit vernetzten Gruppe „Behinderte Menschen in Not“ vor. „Österreich behindert Menschen“ haben AktivistInnen um Sebastian Ruppe die siebentägige Mahnwache im Juli 2011 in der Grazer Innenstadt genannt. Ruppe erklärt die Motive für diesen Protest und liefert eine Analyse der Situation für behinderte Menschen in Österreich. Monika Mayrhofer setzt sich mit dem Zugang zum Recht von behinderten Menschen auseinander und zeigt die Stärken sowie die Probleme auf. Der Sexualberater und –pädagoge Dieter Schmutzer macht sich Gedanken über das Tabuthema Sexualität und Behinderung. Mit Betonung auf Sex als Recht, dass jede und jeder für sich in Anspruch nehmen kann, aber nicht muss, stimmen ihn die Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre zuversichtlich. Eva Egermann sprach mit Heike Raab, Expertin für Disability Studies über die Repräsentation von Behinderung in wissenschaftlichen Diskursen, über die Paralympics sowie über die Verbindungslinien von Queer und Disability. Seit 30 Jahren pflegt Sieglinde Schauer-Glatz ihren schwer behinderten Sohn, den Künstler Martin Schauer zu Hause. Lisa Gensluckner sprach mit ihr über ihren politischen Kampf für die Integration von Menschen mit Behinderung und die Barrieren für eine Eigenbetreuung.
Schüler und Schülerinnen des Bundesoberstufenrealgymnasiums in 1030 Wien (BORG3), bekannt durch ihr Engagement für das Bleiberecht einer Mitschülerin im Oktober 2010, haben in Zusammenarbeit mit Jo Schmeiser und Simone Bader (Klub Zwei) eine Postkartenserie gegen Abschiebung, Ausgrenzung und Rassismus gestaltet. Wir freuen uns die Ergebnisse dieser Kooperation als Mittelposter zu präsentieren.
In eigener Sache
Nach 20 Jahre STIMME feiern wir nun auch 20 Jahre Initiative Minderheiten: mit einem Symposium zu Mehrsprachigkeit und mit Konzerten am 10. und 11. November in Wien.
Gerald Kurdoğlu Nitsche, Stimme-Autor und Gestalter der ersten Stunde, seit 1993 mit der Kolumne „Brief aus Istanbul“, die – je nach der Änderung des Lebensmittelpunkt des Vielreisenden immer wieder auch „Brief nach Istanbul“ getitelt wurde – nimmt Abschied von uns. An dieser Stelle bedanken wir uns bei Kurdoğlu Nitsche herzlich für die Begleitung der STIMME über 20 Jahre.
Unsere tiefe Trauer gilt unserem Freund und Kollegen Franz Ellinger, der am 1. Juli 2011 plötzlich von uns gegangen ist.
Gamze Ongan, Chefredakteurin