#79/2011 20 Jahre Stimme
Wir feiern Geburtstag. Die erste Ausgabe der STIMME ist genau vor 20 Jahren erschienen. Die Anregung, als Initiative Minderheiten (damals noch unter dem Namen Initiative Minderheitenjahr) eine „Minderheitenzeitschrift“ herauszugeben, kam unter der politischen Verantwortung der damaligen Stadträtin Ursula Pasterk vom Kulturamt der Stadt Wien – ebenso die erste Finanzierung.
Das anfängliche Redaktionsteam unter der Leitung von Gerhard Hetfleisch bestand u. a. aus Haydar Sarı, Vinko Pašalić (†1998), Vladimir Wakounig, Elisabeth Feuerstein, Gerald Nitsche, Franjo Schruiff und Hans Peter Schatz. 1993 übernahm Hakan Gürses die Chefredaktion und führte sie bis Ende 2007. Ebenso 1993 erschienen die ersten Kolumnen „Groll“ von Erwin Riess und „Brief aus Istanbul“ von Gerald Nitsche. 1994 folgte „Kahlauers Tagebuch“, 1996 die „Stimmlage“. Die STIMME entwickelte sich im Laufe der Jahre nicht zuletzt dank ihren zahlreichen Autorinnen und Autoren zu einer bedeutenden medialen Plattform für minorisierte Gruppen in Österreich.
Die Jubiläumsausgabe zum 20-jährigen Bestehen der STIMME und der Initiative Minderheiten (IM) beleuchtet die politischen und sozialen Entwicklungen zu einzelnen minorisierten Gruppen in den vergangenen zwei Jahrzehnten.
Vida Bakondy hat für die Jubiläumsausgabe eine Timeline erarbeitet, die die historischen Entwicklungen aller Minderheiten in Österreich erstmals zusammenfügt. Auffallend in dieser Zusammenstellung ist, dass in den 1990er Jahren parallel zur Entwicklung von Rechten der Volksgruppen, von Lesben und Schwulen sowie von Menschen mit Behinderung jene von MigrantInnen und Flüchtlingen sukzessive beschnitten werden. Ein Hinweis darauf, dass die Bildung von minoritären Allianzen wichtiger wird denn je zuvor? Aus Platzmangel kaum berücksichtigt werden konnte u. a. die Vielzahl an Vereinsgründungen, medialen Plattformen und zivilgesellschaftlichen Protesten, die die Minderheitenpolitik wesentlich geprägt und verändert haben.
Alle AutorInnen und InterviewpartnerInnen dieser Ausgabe sind der IM als Vorstandsmitglieder oder durch ihr Engagement in der Umsetzung zahlreicher
Projekte verbunden. Sie befassen sich rückblickend mit 20 Jahre Minderheitenpolitik aus Blickwinkeln der verschiedenen Gruppen. Unabhängig vom jeweiligen Schwerpunkt wiederholen sich in den Beitragen bestimmte Ereignisse und Themen: So führt das „Lichtermeer“ 1993 mit 300.000 TeilnehmerInnen gegen das FPÖ-Volksbegehren „Österreich zuerst“ kurz zur Annahme, dass die Zivilgesellschaft imstande sei, sich gegen Nationalismus und Rassismus durchzusetzen. Das Bombenattentat von Oberwart 1995, dem vier Roma zum Opfer fielen, symbolisiert hingegen als Höhepunkt einer rassistischen Anschlagsserie die „Aufkündigung eines antifaschistischen und antirassistischen Grundkonsenses“ in der Zweiten Republik (Baumgartner, S. 28). Immer wieder Thema sind darüber hinaus die Nichteinhaltung verfassungsrechtlich abgesicherter Minderheitenrechte – Stichwort Ortstafeln, die wiederholten Tabubrüche hinsichtlich der nach wie vor unaufgearbeiteten NS- Geschichte Österreichs, die schwarz-blaue Regierung unter Beteiligung der FPÖ und die permanente Verschärfung der Fremden- und Asylgesetzgebung.
„Die Initiative Minderheiten war eine Provokation“, so der Obmann der IM, Vladimir Wakounig, im Gespräch, das Gerd Valchars mit ihm und der langjährigen Obfrau Ursula Hemetek geführt hat. Die beiden Gründungsmitglieder erzählen von den Anfängen der IM und was man hätte anders machen sollen.
Vida Bakondy sprach mit Hakan Gürses, der die Stimme über 15 Jahre als Chefredakteur und Kolumnist geprägt hat. Eine Auswahl an „Stimmlagen“ von Gürses aus den Jahren 1997 bis 2010 drucken wir im vorliegenden Heft ab. Diese beziehen sich auf die politischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit, haben aber, so traurig es ist, an Aktualität nichts eingebüßt.
Franjo Schruiff zieht einen Bogen betreffend Volksgruppenpolitik von 1981 bis heute, um festzustellen, dass die Volksgruppen wieder einmal auf den guten Willen der Mehrheit angewiesen sind – wie vor 30 Jahren.
Die landeseigene „Tradition der Kontinuität“ beschäftigt auch Hikmet Kayahan, der glaubt, seit 20 Jahren in einer österreichischen Zeitschleife festzusitzen.
Helga Pankratz und Sushila Mesquita erzählen im Gespräch mit Vida Bakondy von Fortschritten in der Gesetzgebung und gesellschaftlicher Stagnation betreffend der Behandlung von Lesben, Schwulen und TransGender-Personen.
Zwischen Frustration und Hoffnung bewegt sich der Rückblick von Peter Schwarz über den Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit und der Entwicklung der jüdischen Gemeinde.
Erwin Riess, der die Stimme über Jahre hinweg mit seiner Kritik am Umgang der Gesellschaft und der Politik mit behinderten Menschen begleitet hat, thematisiert die Vernichtung der Errungenschaften der autonomen Behindertenbewegung durch das Sparpaket 2011.
Gerhard Baumgartner schließlich konzentriert sich auf die Sprachminderheiten und stellt fest, dass das Schicksal der österreichischen Volksgruppen mit dem der MigrantInnen in Österreich eng verknüpft ist.
Die STIMME entsteht mit knappen personellen und finanziellen Ressourcen. Ohne das große Engagement von zahlreichen Freunden und Freundinnen der IM wäre es nicht gelungen, diese Publikation 20 Jahre aufrechtzuerhalten. Ihnen allen, der schultz+schultz-Mediengestaltung, der Drava Druckerei, Erich Demmer für seine Unterstützung und nicht zuletzt unseren Lesern und Leserinnen an dieser Stelle einen herzlichen Dank!
Einen besonderen Dank an Vida Bakondy für ihre große Unterstützung in der Konzeption und Entstehung dieser Jubiläumsausgabe und an Fatih Aydoğdu, der für das Cover und die Infografik verantwortlich zeichnet.
Ebenso danken möchten wir dem Kulturamt der Stadt Wien, das es bis heute förderlich findet, dass es diese STIMME gibt und sie finanziell unterstützt, sowie dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und den Landesregierungen Tirol und Burgenland.
Auf weitere zwei und mehr Dekaden mit der STIMME!
Gamze Ongan, Chefredakteurin