#78/2011 Warum die Türken?
Diese Frage begleitet mich seit den späten 1980er Jahren, als meine Mitbewohnerin, eine Studentin aus dem katholischen Polen, meinte, ihre Mutter dürfe nicht erfahren, dass sie nun in Wien mit einer Türkin zusammenwohne. Kurz davor war ich vor Scham errötet, als ich in einer Vorlesung über antikes Theater hören musste, dass „die barbarischen Türken“ Griechenlands Wälder abgeholzt hätten.
20 Jahre später, während der Vorbereitung dieser Ausgabe, bekam ich von einer Frauenzeitschrift, deren Redaktion außer meinen Namen nichts über mich wissen konnte, die Anfrage, ich möge meine Geschichte in wenigen Sätzen zusammenfassen: „Also, wie Sie sich quasi emanzipiert haben“. Davor hatten sie von mir einen kurzen Text über die rechtliche Situation von Migrantinnen in Österreich bekommen. Ich konnte also lesen und schreiben. Auf Deutsch. Ein eindeutiges Zeichen der Emanzipation? Ja, wenn man nur ein Bild von „Türkin“ im Kopf zulässt.
Sie sind die „falschen Zuwanderer“, so der Chefredakteur der Tageszeitung Die Presse anlässlich der Debatte rund um das Interview mit dem türkischen Botschafter Kadri Ecvet Tezcan im November 2010. Doch einen Anlass braucht der negative Diskurs über die „Türken“ nicht unbedingt. Vielmehr bilden diese ein Dauerthema in den österreichischen Debatten rund um die Themen Migration und Europäische Union.
Haben die „Türken“ überhaupt noch eine Chance aus der Rolle der – gelinde gesagt – unbeliebtesten Bevölkerungsgruppe in Österreich zu schlüpfen? Liegt die Hauptursache der Ablehnung in den Jahrhunderte zurückliegenden „Türkenbelagerungen“ und deren Nachwirkungen im kollektiven Gedächtnis? Oder wiegt die „falsche“ Religion, der die meisten ZuwanderInnen aus der Türkei angehören, schwerer? Oder werden die jungen Erwachsenen mit türkischem Hintergrund gar zu einer Konkurrenz? Was sind die Gründe für dieses massive Unbehagen angesichts von rund 360.000 Menschen türkischer Herkunft? Und vor allem: „Warum die Türken?“, fragten wir unsere AutorInnen.
Sollten die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union ein positives Ende finden, steht uns eine Volksabstimmung bevor, deren Ausgang mehr als vorhersehbar ist. Lesen Sie eine „Reportage“ über diesen Tag, der – sagen wir mal – im Jahr 2015 stattfinden wird.
Waren die Türken schon immer ein „Problem“ für Österreich? Das Autorinnenteam Silvia Sallinger, Judith Pfeifer und Johanna Witzeling macht sich auf die Spuren des Feindbildes „Türke“ und berichtet von der Kraft gespeicherter und nach Bedarf abrufbarer Bilder, während Cengiz Günay zeigt, wie aus „Gastarbeitern“„Fremde“ und aus beiden schlussendlich „Türken“ wurden.
Hakan Gürses stellt uns eine Gegenfrage: „Warum nicht?“ Sämtliche negativ wie positiv gemeinten Eigenschaften, die TürkInnen zugeschrieben werden, dienen – so Gürses – zur Konstruktion eines Gegenbildes, das für die Legitimierung des Nationalismus unentbehrlich ist.
Sabine Strasser schließlich wundert sich über die zunehmende Zahl der neuen Feministen unter Österreichs Männern und analysiert anhand von drei Erlebnissen in Österreich und in der Türkei – nein, nicht die „Türken“, sondern die ProduzentInnen der Türken-Bilder.
So ist aus dieser von der Redaktion oft ironisch „Türkennummer“ genannten Stimme-Ausgabe ein Themenheft über Österreich geworden.
Wir freuen uns sehr, dass wir den freischaffenden Künstler und Grafikdesigner Fatih Aydoğdu für das Bilddesign der Themenstrecke gewinnen konnten. Wenn Sie den Ideenreichtum genießen wollen, trauen Sie keinesfalls dem ersten Blick. Aydoğdus Images ranken um die Thementexte und bilden eine weitere inhaltliche Ebene.
Die STIMME feiert in diesem Jahr ihren 20. Geburtstag. In der Jubiläumsausgabe, die im Juni erscheint, blicken wir auf die österreichische Minderheitenpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte zurück.
Eine informative Lektüre wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin