#81/2011 Jüdisches (Über)Leben
Berührungsängste, Fragen die man sich nicht zu stellen traut, Angst die falsche Sprache zu benutzen, politisch nicht korrekt zu sein. Der jüdischen Bevölkerung Österreichs – eine Gruppe, die nach 1945 zu einer Minderheit geworden ist – wird zumeist mit einem gewissen Exotismus begegnet. Vielleicht auch ein Grund für die bisherige Unterrepräsentation der jüdischen Themen in der STIMME.
Mit dem vorliegenden Heft versuchen wir fragmentarisch vom heutigen jüdischen Leben in Österreich zu berichten, das gleichzeitig ein „Überleben” bedeutet. Daher beziehen sich die Texte immer wieder auch auf Auswirkungen der Shoah auf heute.
Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, nimmt eine merkwürdige Einladung des Innenministeriums zum Anlass, um ungewohnte Allianzen zu hinterfragen und auf die Konsequenzen der Politisierung der Religionen aufmerksam zu machen.
Im Jahr 2010 fand in Wien die erste „Muslim Jewish Conference” statt, die zweite folgte 2011 in Kiew. Valerie Prassl geht in ihrem Artikel auf die Notwendigkeit, Methoden und Ziele dieser von österreichischen Studierenden ins Leben gerufenen Konferenz ein.
Theodor Much, Präsident der Or Chadasch – Bewegung für progressives Judentum weist auf den Pluralismus im Judentum hin und berichtet, was diese liberal-jüdische Gemeinde ausmacht.
„Jüdisch sein ist nicht gleich jüdisch sein”, so auch Marek Božuk, Gründungmitglied des Salon Vienna. Im Artikel von Božuk geht es um die Entstehungsgeschichte und die Aktivitäten dieses Salons, der ein junges und modernes Verständnis des Judentums prägen will.
Dort, wo im Zweiten Wiener Gemeindebezirk bis 1938 der „Große Leopoldstädter Tempel” stand, ist heute das psychosoziale Zentrum ESRA angesiedelt. ESRA bietet Überlebenden der NS-Verfolgung, den child survivors und deren Nachkommen umfassende psychosoziale Unterstützung. Auch erhalten hier die in den vergangenen Jahrzehnten eingewanderte jüdische Migrantinnen und Migranten umfassende Sozialberatung. Gerda Netopil gibt einen Überblick über die Eckdaten jüdischer Migration nach Österreich und problematisiert die Konsequenzen des Ineinandergreifens der individuellen Leidensgeschichte der Überlebenden und MigrantInnen mit den politischen Entwicklungen.
Vida Bakondy setzt sich in ihrem Artikel über die Fotoalben der Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy mit der historischen Spur auseinander, die durch das Zusammenwirken der Fotos und der Bildunterschriften entsteht. Bakondy stellte uns auch das Coverbild aus dem fragmentarischen Nachlass von Fritzi Löwy (datiert 1927) zur Verfügung.
Auch im Bericht von Thomas Mördinger geht es um Erinnerung, genauer um Rückschläge und Erfolge in der Arbeit des Zeithistorikers Robert Streibel, die Erinnerung an Kremser Juden und Jüdinnen hochzuhalten.
Okşan Svastics schließlich begibt sich in das Wien des 18. und 19. Jahrhunderts und erzählt vom Leben der großen sephardisch-türkischen Gemeinde.
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Initiative Minderheiten fand im November unter dem Titel „Sag wie hast du‘s mit der Sprache” ein Symposium zur Bedeutung von Sprache und Mehrsprachigkeit statt. Das Thema Sprache als Politikum wird uns auch in der nächsten STIMME beschäftigen.
Eine interessante Lektüre wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin