#102/2017 Nationalismen
Populistische und nationalistische Parteien legen bei Wahlen und Abstimmungen (nicht nur) in Europa stark zu. Ihre Gemeinsamkeiten liegen in der Ablehnung von Einwanderung, der Skepsis gegenüber der Europäischen Union, dem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Medien sowie Antifeminismus und Homophobie. Die Idee des offenen, minderheitenfreundlichen Europas schwindet rasant, während Nationalismen nahezu in Diktaturen übergehen. In unserer Frühlingsausgabe widmen wir uns den erschreckend zunehmenden Renationalisierungstendenzen, deren Ende leider nicht in Sicht ist.
Ein kurzes Aufblitzen von Hoffnung, gewaltlose, starke Protestbewegungen – vom arabischen Frühling über die Gezi-Bewegung bis zur Maidan-Revolution – bestimmten die 2010er Jahre. Hakan Gürses sucht Erklärungen für die Zeit danach, in der Staatsstreiche, militärische Konflikte und Diktaturen die aufkommende pluralistische Kraft der Bürger_innen im Keim erstickten.
Soll man und kann man überhaupt Nationalist_innen aufklären? Der Schriftsteller Richard Schuberth macht sich „verstreute“ Gedanken.
Ungarn und Polen sind die ersten EU-Länder, deren nationalkonservative Regierungsparteien einen radikalen Umbau des politischen Systems verfolgen. Wir haben die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky sowie den Schriftsteller und Osteuropa-Experten Martin Pollack Analysen der Entwicklungen in Osteuropa gebeten.
Auch in Österreich wäre beinahe ein Rechtspopulist zum Staatspräsidenten gekürt worden. Die Soziologin und Historikerin Karin Stögner weist in ihrem Beitrag auf die Verschränkung von Nationalismus und Antifeminismus im Weltbild der Freiheitlichen Partei Österreichs hin.
„I am a dreamer. You can’t deport ideals“ war Ende Jänner dieses Jahres auf dem Plakat einer New Yorker Demonstrantin zu lesen. Dreamers – abgeleitet vom amerikanischen Traum – nennen sich Kinder illegaler Einwanderer in den USA. Zsaklin Diana Macumba berichtet über die Einwanderungspolitik der Trump-Regierung und die neuen Ängste der Betroffenen.
Unsere Themenstrecke schließen wir mit einem literarischen Text ab: „Als nach Milošević das Wasser kam“ – der Schriftsteller Marco Dinić stellte der Stimme seinen Romanauszug zur Verfügung, den er beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 in Klagenfurt gelesen hat.
Ein Besuch in der Gemäldegalerie des Museums für Bildende Künste am Schillerplatz bestätigte Groll und dem Dozenten zum wiederholten Male die systematische Verletzung der Barrierefreiheit in öffentlichen Institutionen. Erwin Riess erzählt.
Die Radio-Stimme-Nachlese greift auf eine Sendung vor, die im Mai 2017 ausgestrahlt wird: Petra Permesser befasst sich mit dem Homonationalismus.
Ein Foto, das eine Demonstration der Nationaldemokratischen Partei Österreich im Februar 1971 festhält, war für Vida Bakondy Anlass, für die Spurensicherung die Hintergründe zu recherchieren.
Das Jahr 2017 begann mit dem lange Unvorstellbaren: Am 20. Jänner wurde der rechtspopulistische Geschäftsmann Donald Trump als der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Für Erleichterung sorgte das niederländische Wahlergebnis – wenngleich der Nationalist Geert Wilders zulegen konnte, blieb er weit hinter seinem gesteckten Ziel, stärkste Partei zu werden. Am 16. April findet in der Türkei das Referendum über eine Präsidialdemokratie statt, wonach der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt und mit einer ungewöhnlichen Machtfülle ausgestattet werden soll. In Frankreich werden der rechtspopulistischen Front National Marine Le Pens ernsthafte Chancen zuerkannt, wenn am 23. April und 7. Mai dieses Jahres gewählt wird. Und am 24. September ist schließlich Deutschland dran, wo trotz zuletzt sinkender Umfragewerte die populistische AfD erstmals in den Bundestag einziehen könnte.
Bewegte Zeiten also, wie wir sie die vergangenen 25 Jahre der Stimme so noch nicht erlebt haben. Doch ist es Frühling und nicht alle Wahlen sind geschlagen. Ungeachtet dessen, wie die Länder wählen, liegt es auch an uns, unseren Beitrag für Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit zu leisten. Es ist nie umsonst.
In diesem Sinne wünscht Ihnen viel Licht, Heiterkeit und Zuversicht
Gamze Ongan, Chefredakteurin
Stimmlage – von Hakan Gürses