#97/2015 Recht auf Willkommen
September 2015. Seit viereinhalb Jahren herrscht Bürgerkrieg in Syrien. Über drei Millionen Menschen sind in die Nachbarländer Libanon und Türkei geflüchtet und setzen nun ihre Flucht Richtung Europa fort. Neben der gefährlichen Seeroute zu den griechischen Ägäis-Inseln nahe der türkischen Küste machen sich die Menschen auf die West-Balkan-Route: über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn nach Österreich und Deutschland.
Unerwartetes geschieht. Unmittelbar vor den gefürchteten Wiener Wahlen bekennt die Wiener SPÖ Farbe und schlägt sich auf die Seite der Menschlichkeit. Wien holt etwa unbegleitete Minderjährige aus dem überfüllten Traiskirchen. Trotzdem oder gar deswegen bleibt das vielfach vorausgesagte Wahldebakel aus. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel überrascht und erntet aufgrund ihrer Entschlossenheit in der Aufnahme von Flüchtlingen vielfaches Lob von unerwarteter Seite. Und die engagierte Zivilgesellschaft vollbringt Wunder in der Unterstützung der Schutzsuchenden. Für eine kurze Zeit herrscht eine Art Feststimmung im Lande, ein verbindendes Gefühl, gemeinsam zu helfen und zu den „Guten“ zu gehören.
Zu früh gefreut? Heute, nach etwa vier Monaten, werden Grenzzäune errichtet. Und die Türkei – ungeachtet des harten Vorgehens in den Kurdengebieten, der autoritären Regierung und der Missachtung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit – wird zum wichtigsten Partner der EU in der „Bewältigung der Flüchtlingskrise“. Ein Stimme-Heft zum menschenrechtskonformen Umgang mit schutzsuchenden Menschen.
Dass der Lauf der Dinge im Jahr 1956, als Österreich 200.000 ungarische Flüchtlinge aufnahm, nicht viel anders war, die „Willkommenskultur“ auch damals nicht einwandfrei funktionierte, belegt der Text des Historikers Béla Rásky.
Auch heute hat es nicht lange gedauert, bis der Begriff „Obergrenze“ den Flüchtlingsdiskurs dominiert hat. Der Menschenrechtler Philipp Sonderegger diskutiert die beiden EU-weit herrschenden Strömungen „Zulassen“ und „Abschotten“ und plädiert für eine Rückbesinnung auf die Menschenrechte.
Die steigende Zahl der Schutzsuchenden an Europas Grenzen darf nicht dazu führen, dass das Recht aus Asyl und das Refoulement-Verbot außer Kraft gesetzt werden. Margit Ammer vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte warnt vor der Gefahr, dem Schutz der EU-Außengrenzen gegenüber dem Zugang zu Schutz in Europa Proirität einzuräumen.
Julia Hofbauer und Gerd Valchars haben mit Vertreter_innen aus drei Freiwilligen-Initiativen gesprochen, die die ankommenden Flüchtlinge seit der ersten Stunde tatkräftig unterstützen: Eva Ipsmiller von Deutsch ohne Grenzen, David Zistl von Flüchtlinge Willkommen und Benjamin Fritz von Train of Hope über die Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements und über die Instrumentalisierung ihrer Arbeit. An dieser Stelle gratulieren wir Train of Hope zum frisch verliehenen Menschenrechtspreis durch die Liga für Menschenrechte.
Von den Ergebnissen der Initiative-Minderheiten-Studie über die Bildungs- und Ausbildungssituation von Roma und Sinti in Österreich haben wir schon in unserer Sommerausgabe berichtet. Lena Lisa Vogelmann wollte nun wissen, wie es den Roma und Sinti bei der Forschung über ihre eigene Volksgruppe ging.
Der von der Initiative Minderheiten Tirol initiierte Film „Betteln.Menschen.Rechte“ feierte am 10. November 2015 Premiere in Innsbruck. Ein ausführlicher Bericht von Lisa Bolyos und Markus Griesser.
Erwin Riess führt Groll und den Dozenten nach Kirchstetten in Niederösterreich und uns in die unrühmliche Geschichte der Gemeinde, die heute noch verharmlost wird.
Julia Wiegele informiert über die Ergebnisse des Initiative-Minderheiten-Projekts „Selbstorganisation von Migrant_innen im Sport“.
In der Radio-Stimme-Nachlese macht Petra Permesser Lust auf die (Neu-)Entdeckung Wiens anhand des Buches Im Schatten der Ringstraße.
Vida Bakondy schließlich erläutert uns in der Spurensicherung die enge Verbindung zwischen der Föderation der Arbeiter und Jugendlichen aus der Türkei und dem antifaschistischen Kampf der KPÖ gegen das NS-Regime.
In eigener Sache
Das Thema Flucht wird uns auch im Jahr 2016 weiter beschäftigen. Die Initiative Minderheiten plant für Juni 2016 eine internationale Tagung, in deren Rahmen die Fluchtthematik unter den Aspekten Fluchtgründe, Rolle der Zivilgesellschaft sowie Herausforderungen für die Zukunft diskutiert werden soll. Geplant ist auch ein Wanderkino: Im Rahmen von „Migrant Cinema“ sollen in kleineren Kärntner Städten und Gemeinden Filme zum Thema Flucht gezeigt werden.
Ein erholsames Jahresende sowie viel Kraft und Engagement für 2016 wünscht
Gamze Ongan, Chefredakteurin
Stimmlage – Verschwörungstheorien und verdichtete Globalfälle – von Hakan Gürses